Freitag, 15. Oktober 2010

»›Stuttgart 21‹ ist vor allem eine soziale Frage«

»›Stuttgart 21‹ ist vor allem eine soziale Frage«

Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Linkspartei bei Protesten gegen Bahnhofsbau? Ein Gespräch mit Bernd Riexinger

Interview: Herbert Wulff

Bernd Riexinger ist Landessprecher der Partei Die Linke in
Baden-Württemberg und Geschäftsführer des
ver.di-Bezirks Stuttgart

Parteipolitisch gewinnen offenbar vor allem die Grünen aus der
Bewegung gegen »Stuttgart 21«. Einer Umfrage zufolge
liegt die Partei in Baden-Württemberg jetzt bei 34 Prozent.
Die Linke, die ebenfalls Teil der Proteste ist, kommt nur auf
fünf Prozent. Wie erklären Sie sich das?

Wenn wir bei der anstehenden Wahl tatsächlich fünf
Prozent oder mehr bekommen, ziehen wir erstmals in den Landtag ein.
Damit könnte Die Linke leben. Wir sind in dieser Bewegung stark engagiert. Die Proteste werden von allen Bevölkerungsschichten getragen, waren zu Beginn aber vor allem bürgerlich geprägt. Da ist der Weg nach links doch etwas weiter. Trotzdem wird auch Die Linke von dem Protest profitieren.
Was aber viel wichtiger ist: Die Linke ist inzwischen – das war nicht immer so! – anerkannter Teil des Bündnisses und der Bewegung

Mit welchen Vorschlägen und Forderungen tritt Die Linke bei den Protesten in Erscheinung?

Für Die Linke ist »Stuttgart 21« vor allem eine
soziale Frage. Einerseits fehlen in Stuttgart 3000 Kita-Plätze für unter Dreijährige, in den Schulen bröckelt der Putz von den Decken, baufällige Turnhallen werden geschlossen.
Andererseits werden für den neuen Tiefbahnhof Milliarden vergraben. Dieser Widerspruch ist ebenso offensichtlich wie das Fehlen eines entwickelten Regionalverkehrs. Auch da sagt Die Linke: Lieber in den Ausbau des Regionalverkehrs investieren als in
Hochgeschwindigkeitsstrecken. Die Linke will sich als
verläßlicher Partner dieser außerparlamentarischen
Bewegung etablieren. Die Leute können sich darauf verlassen, daß wir Kurs halten und mit uns auch nach der Wahl kein »Stuttgart 21« zu machen sein wird.

Auffallend bei den Demonstrationen ist das weitgehende Fehlen von Gewerkschaftsfahnen. Ist »Stuttgart 21« in den Gewerkschaften kein Thema?

Zumindest für ver.di gilt das nicht. Wir haben uns schon 2007, als 67000 Unterschriften für einen Volksentscheid gesammelt wurden, gegen dieses Prestigeprojekt positioniert und mit dagegen mobilisiert. Es war aber – insbesondere von den Grünen
– nicht so gewünscht, daß die Gewerkschaften auffallend in Erscheinung treten. Das hat sich mittlerweile zum Positiven verändert. Ich würde sagen, daß allein von ver.di Tausende Gewerkschaftsmitglieder an den Protesten teilnehmen.

Wie groß ist die Offenheit der Demonstranten
gegenüber den Positionen der Gewerkschaften, zum Beispiel gegen den Sozialabbau?


Meiner Erfahrung nach sind sie für die sozialen Fragen hoch sensibilisiert. »Stuttgart 21« ist mittlerweile auch
zum Symbol für die verteilungspolitische Auseinandersetzung in diesem Land geworden. Ich halte es daher für unbedingt erforderlich, die für den Herbst geplanten Proteste gegen das Sparpaket – in Stuttgart soll es am 13. November eine Großdemonstration geben – mit der Bewegung gegen den Tiefbahnhof zu verbinden.

Was können die Gewerkschaften aus den Massenprotesten gegen »Stuttgart 21« lernen, die ja anscheinend aus dem Nichts entstanden sind?

Zum einen ist die Bewegung sehr breit gefächert, mit vielen verschiedenen Akteuren, die unterschiedliche politische Haltungen und Protestkulturen einbringen. Das funktioniert unglaublich gut, und es würde auch den Gewerkschaften gut tun, mehr auf die »Spontaneität der Massen« zu setzen, wie es Rosa Luxemburg formuliert hat.

Zum anderen kann man von der großen Entschlossenheit lernen.
Die Akteure wollen dieses Projekt ernsthaft zu Fall bringen. Hier werden keine voreiligen Kompromisse geschlossen oder wird die Bewegung frühzeitig abgebrochen. Alle glauben daran, daß man so lange kämpft, bis »Stuttgart 21« zu Fall gebracht ist. Es wäre auch für die Gewerkschaft wichtig, daß die Mitglieder sehen: Die Gewerkschaft kämpft, solange sie kann und bricht die Mobilisierungen nicht vorzeitig ab.

Ist das bei einer solche Ein-Punkt-Bewegung, bei der entweder ein Ja oder ein Nein zum Bahnhofsbau herauskommt, nicht auch einfacher?

Sicher. Und es ist auch ein Unterschied, wenn ich in meinem Arbeitsverhältnis, von dem ich existentiell abhänge, dem Arbeitgeber gegenüberstehe. Dennoch kann man von dieser Bewegung viel lernen. Das Bewußtsein der Leute ist: Jeder trägt etwas zu der Auseinandersetzung bei, jeder einzelne ist wichtig. Auch bei Gewerkschaften müssen die Beschäftigten
selbst die zentralen Akteure sein.

Quelle: "junge Welt", 14.10.2010
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